Warum die Zeit (fast) egal ist…

Hätte ich diesen Blogbeitrag vor zwei Wochen geschrieben, wäre er anders ausgefallen. Die Ereignisse der letzten Tage haben unser Leben auf den Kopf gestellt. Auch wenn Fakten unveränderlich sind, müssen sie doch auch immer in einem Kontext gesehen werden. Gesellschaftlich, geschichtlich und auch persönlich.

Betrachten wir die Fakten: „Onlinesucht“ gibt es nicht. Vielleicht noch nicht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO und die American Psychiatric Association, die jeweils Manuale zur Erfassung psychischer Erkrankungen herausgeben, tragen dennoch beide dieser relativ neuen Form der Abhängigkeitserkrankung Rechnung. In den aktuellen Versionen der Manuale gibt es die sogenannte Gaming Disorder, die also nur dem übermäßigen Spielen von Videospielen, sowohl online als auch offline, suchtartigen Charakter zuschreibt. Exzessiver Konsum von Social Media oder Onlinepornographie sind in diesen Manualen nicht erwähnt.
Doch wie können Sie nun abschätzen, ob Ihr Sohn oder Ihre Tochter von dieser „Gaming Disorder“ betroffen sein könnte? Wichtige Fragen in diesem Zusammenhang sind:

  • Kann mein Kind den Konsum kontrollieren? (Wie häufig greift er oder sie zum Handy oder zur Konsole? Hält es sich an vereinbarte Zeiten? Schafft Ihr Kind es, selbst auferlegte Ziele einzuhalten? Sie kennen bestimmt Sätze wie: „Bitte, nur noch eine Runde!“. Wie schwer fällt Ihrem Kind das Abdrehen?)
  • Hat das Spielen Vorrang vor anderen Hobbys und Pflichten meines Kindes? (Schule, Freunde, Freizeitbeschäftigungen, … – aber Achtung: Hier gilt es gut zu differenzieren, ob es sich tatsächlich um eine pathologische Entwicklung handelt oder vielmehr um eine Veränderung der Interessen als natürliche Entwicklung in der Pubertät.)
  • Spielt mein Kind, obwohl es dadurch negative Konsequenzen erdulden muss? (Nimmt Ihr Sohn oder Ihre Tochter Streit mit Ihnen in Kauf, um spielen zu können? Ist ein Leistungsabfall in der Schule beobachtbar? Gibt es wegen des Spielens vielleicht Streit mit Freund_innen? Kann Ihr Kind schlechter ein- oder durchschlafen, weil das Spiel es wachhält und auch über die Spielzeit hinaus beschäftigt?)
  • Beobachte ich „Entzugssymptome“ wie Nervosität, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, aggressives Verhalten bei meinem Kind?
    Treten mehrere dieser Symptome über einen längeren Zeitraum auf (Expert_innen beobachten bei Kindern und Jugendlichen meistens die letzten sechs Monate genauer), ist das ein deutlicher Hinweis auf eine Abhängigkeitsentwicklung. Die Zeit des Spielens an sich spielt bei dieser Diagnose also nicht die vorrangige Rolle. Ob Ihr Kind 30 Minuten spielt oder drei Stunden macht für die Diagnostik wenig Unterschied.

Empfehlungen zufolge sollten Kinder erst ab dem Volksschulalter 30 Minuten am Tag mit Bildschirmen beschäftigt sein, ab zehn Jahren eine Stunde pro Tag. Unsere Erfahrung zeigt: Es ist weit weniger wichtig, wie lange ein Kind sich mit Bildschirmmedien beschäftigt, ausschlaggebend ist eher, welche Inhalte damit konsumiert werden und wie es Ihrem Kind danach geht. Ihr siebenjähriger Sohn ist mit einer halben Stunde Brawl-Stars-Spielen vielleicht völlig überfordert, ist danach gereizt, frech und übellaunig. Beim Abdrehen gibt es Streit. Nach zwei Folgen seiner Lieblingsserie, die insgesamt 50 Minuten dauern, ist er entspannt und dreht wie vereinbart, vielleicht nach Erinnerung, ab. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir uns über die Inhalte, die unsere Kinder konsumieren, mehr Gedanken machen sollten als nur über die Zeitspanne.

Der Konsum von Videospielen, Social Media, Serien und Ähnlichem bringt natürlich ein paar Herausforderungen mit sich und enthält für uns alle auch bekannte Risiken. Kinder und Jugendliche müssen lernen, welchen Inhalten Sie im Netz vertrauen und Quellen überprüfen können. Sie müssen verstehen, mit welchen Motiven Menschen Inhalte verbreiten. Sie müssen wissen, welche Inhalte sie selbst von sich veröffentlichen können und welche lieber nicht. Dabei sind wir, die Erwachsenen, gefragt. Wenn es um die Medienerziehung unserer Kinder geht, haben wir drei wichtige Aufgaben:

  1. Lassen Sie Ihr Kind nicht mit dem Internet alleine! Je älter es ist, desto weniger Anleitung und Begleitung wird es brauchen und akzeptieren. Dennoch sollten Sie als Ansprechpartner_in zur Verfügung stehen, falls Ihr Kind mit ungeeigneten Inhalten konfrontiert ist oder Hilfe benötigt.
  2. Lehren Sie Ihr Kind, wie es Quellen hinterfragen und überprüfen kann! Besprechen Sie mit ihm, welche Inhalte es hochladen darf. Gehen Sie selbst mit gutem Beispiel voran, indem Sie Ihr Kind fragen, bevor Sie Fotos oder Videos von ihr oder ihm veröffentlichen. Respektieren auch Sie ein „Nein“ Ihrer Kinder!
  3. Um Sucht vorzubeugen, ist es wichtig, Regeln für den Umgang zuhause aufzustellen. Das betrifft natürlich auch Ihre eigene Nutzung. „Kein Handy am Esstisch“ bedeutet, dass auch die Erwachsenen mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Wieso sollte der Anruf aus dem Büro wichtiger sein als der Anruf vom Klassenkameraden? Eine weitere wichtige Möglichkeit, um Sucht vorzubeugen, ist, attraktive Alternativen zum Onlinekonsum anzubieten. Je mehr Möglichkeiten Ihr Kind hat, um seine Freizeit zu gestalten, desto besser.

Eines machen Sie schon richtig: Sie beschäftigen sich mit dem Thema. Sie nehmen Entwicklungen Ihres Kindes wahr und informieren sich. Bleiben Sie mit Ihrem Kind im Gespräch, fragen Sie nach, was es am Bildschirm macht und zeigen Sie Interesse. Gerade in diesen Tagen möchte ich Sie daran erinnern, dass sich Diskussionen wie diese bei jeder technischen Errungenschaft wiederholt haben: Denken Sie an die prophezeite „Fernsehsucht“, die „Lesesucht“ oder auch die „Schachsucht“! Haben Sie kein schlechtes Gewissen, wenn Sie Ihr Kind dieser Tage länger fernsehen oder am Computer spielen lassen als sonst, um arbeiten zu können. Genießen Sie danach dafür auch bewusst Zeit gemeinsam bei einem kleinen Spaziergang, beim gemeinsamen Brettspiel, beim (vielleicht gegenseitigen?) Vorlesen oder bei einem gemeinsamen Familienessen! Ich wünsche Ihnen alles Gute und viele Genussmomente.

Nika Schoof

Orth, B. (2017). Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2015.
Teilband Computerspiele und Internet. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung.

World Health Organization. (‎2004)‎. ICD-10: international statistical classification of diseases and related health problems : tenth revision, 2nd ed. World Health Organization.


Am 25.3. findet ein Online-Elternabend zum Thema statt.


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Nika Schoof

Nika Schoof, psychosoziale Mitarbeiterin, Trainerin Stellvertretende Leitung Suchtprävention und Früherkennung, Verein Dialog