Mit Alter, vor allem mit dem hohen Alter, wird häufig vor allem körperlicher Verfall assoziiert. Alter wird als defizitäre Lebensphase betrachtet, als Lebenszeit mit dem Bedarf an Betreuung und Pflege. Dass alte Menschen aber über einen enormen Erfahrungsschatz verfügen, über hohes Wissen und aufgrund des langen Lebens viele Lebenszusammenhänge besser verstehen können, wird oft vergessen. Sehr gut brachte diese Kompetenz älterer Menschen eine meiner Klientinnen in der Hauskrankenpflege für mich vor vielen Jahren auf den Punkt. Die Dame war 102 Jahre alt und sie meinte:
„Jetzt wo ich endlich verstehe wie Leben funktioniert. Jetzt wo ich endlich weiß, was wirklich wichtig ist im Leben, jetzt muss ich gehen.“
Lebensgeschichte weitergeben – Lernen und Weiterentwicklung für Jung und Alt
Alten Menschen zuzuhören, ihre Lebensgeschichten zu erfahren, ihren Lebensrückblicken zu folgen, kann daher für jüngere Menschen bereichernd und spannend sein. Dabei ist das Entgegennehmen von Lebensgeschichten keine Einbahnstraße, denn Gespräche bestehen immer aus Geben und Nehmen, ein Austausch zwischen Generationen entsteht.
Für alte Menschen ist das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte stärkend. Wenn der Körper langsam Schwächen zeigt, dann kann das Weitergeben von Lebenserfahrungen die eigene Identität stärken. Vor allem für alte Menschen in Lebenskrisen, etwa nach einer Verwitwung oder bei beginnender Betreuungsbedürftigkeit, ist es tröstend aus dem Leben berichten zu können und von den Zuhörenden Wertschätzung für die erbrachten Lebensleistungen zu erhalten.
Aber Biografiearbeit macht nicht erst im hohen Alter Sinn. Schon um die Lebensmitte beginnen Menschen aus ihrem Leben Resümee zu ziehen. Was habe ich gut gemacht? Wo habe ich falsche Entscheidungen getroffen? Was habe ich aus Tiefschlägen und Krisen gelernt? In Lebensrückblicken reflektieren Menschen ihr Leben, fassen es zusammen, bringen Erkenntnisse auf den Punkt und schließen es, im hohen Alter oder bei Krankheit, auch ab.
Schlussendlich kann Biografiearbeit auch als kulturelle Generativität betrachtet werden. Nach der Weitergabe von Genen und der Weitergabe von (technischem) Wissen, stellt die Weitergabe von Werten und Erfahrungen die dritte Säule der Generativität dar. Sie kommt besonders stark zum Tragen bei alten Menschen. „Was bleibt von mir?“ ist eine tragende Frage des Alters, verbunden mit dem Wunsch, an nachfolgende Generationen etwas weiterzugeben.
Online-Biografiearbeit – neue Möglichkeiten Lebensgeschichte zu erzählen
Waren alte Menschen bis vor Kurzem davon abhängig, dass sich aus der Familie jemand Zeit nahm und Interesse zeigte, ihnen zuzuhören, hat das Internet und die Sozialen Medien hier die Möglichkeiten der Menschen erweitert.
Ob eigener Youtube-Kanal, ob persönlicher Blog oder regelmäßige Podcasts, Online-Biografiearbeit ermöglicht es zeitlich und örtlich unabhängig seine Lebensgeschichte und Lebenserfahrungen weiterzugeben und, je nach Wunsch, nur Familie und Freunde oder auch eine über Familiengrenzen hinausgehende Online-Community zu erreichen.
Was es braucht ist funktionierende Technik, Einschulung in die Welt des Internet, technische Begleitung und natürlich Rückmeldung zu den online gestellten Beiträgen. Kinder und Enkelkinder, aber auch Betreuungspersonen oder Pflegekräfte können hier unterstützen und Mut machen, innere Hürden zu überwinden, denn Lernen endet nie und Herausforderungen machen auch das Leben im Alter bunt und lebenswert.
P.S.: Am 14. Juni fand ein Webinar zum Thema statt. Aufzeichnung und weitere Links finden sich hier.